Das Beispiel einer Bulimie
Fallbeispiel einer 31jährigen Patientin
„An manchen Tagen habe ich fünfmal oder auch mehr gebrochen, an anderen Tagen dann wieder überhaupt nichts gegessen. Solange ich allein wohnte ging das. Von einer halben Flasche Wein eingeleitet, habe ich erst einmal gekotzt, danach wieder irrsinnige Mengen gefressen, dann wieder alles ausgekotzt, dann den restlichen Wein getrunken – danach war ich eh hinüber. So sahen meine Abende aus. Später ging’s auch tagsüber immer öfter. Wenn das Geld nicht mehr reichte hab ich mir die Sachen zum Essen geklaut – irrsinnige Menge. Natürlich bin ich weiter zur Arbeit gegangen, aber eigentlich nur noch, um die Bulimie bezahlen zu können, die Arbeit selber war mir ziemlich egal. Worunter ich total gelitten habe, das war die zunehmende Einsamkeit – und immer diese Angst, dieser Gedanke, dass das vielleicht jemand merkt…
Ich glaube, es hat angefangen, da war ich vielleicht 13 Jahre alt. Eigentlich war ich immer ziemlich gut in der Schule, aber auf einmal hab ich da abgebaut und auch zu Hause ziemliches Theater deshalb gehabt. Als die sich in der Klasse dann auch noch über mich listig gemacht haben weil ich wohl schon so weit entwickelt war, da hab ich mit dem Hungern angefangen. Ich hab mich gefühlt wie ‚ne Tonne und ganz einfach nichts mehr gegessen. Irgendwie fand ich das toll und ich hab ja auch wirklich abgenommen. Zwischendurch hat sich das wieder normalisiert. Später in der Ausbildung wollte ich wieder abnehmen, mit Diät und so … ja und dann fing das mit den Fressanfällen an“.
Die unterschätzte Gefahr
Der ganz alltägliche Umgang mit dem Essen wird für immer mehr Menschen zu einem Problem. Für die einen wird das Essen zur quälenden Sucht, für andere das Hungern zur scheinbar unkontrollierbaren Notwendigkeit. Der Psychologe spricht hier von Störungen des Ernährungsverhaltens. Gerade auch von den Betroffenen werden die körperlichen und seelischen Folgen dieser Form psychischer Erkrankung oftmals geleugnet oder zumindest unterschätzt. Neben den besonderen psychischen und sozialen Problemen kann es bei Essstörungen auch zu schweren körperlichen Folgeschäden kommen.
Zwischen Kalorienflut und Mangelernährung
Essstörungen nehmen nach allen neueren Untersuchungen rapide zu. Immer noch sind es vor allem Frauen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter, die von solchen krankhaften Veränderungen des Ernährungsverhaltens betroffen sind, doch der Anteil der Männer wächst. Besonders stark verbreitet ist die Ess-Brechsucht (Bulimia Nervosa). Hier kommt es oft über Jahre hinweg zu Essanfällen, die von den Betroffenen nicht mehr kontrolliert werden können, so daß sie in kürzester Zeit riesige Mengen an Nahrung zu sich nehmen und wieder erbrechen. Bei der Magersucht (Anorexia Nervosa) kann das Essverhalten ähnlich sein. Überwiegend nehmen jedoch magersüchtige Frauen über lange Zeit keine oder nur extrem wenig Nahrung zu sich, um ihr Gewicht auf ein scheinbares Idealmaß zu reduzieren. Tatsächlich aber kommt es zu gravierenden Gewichtsverlusten und damit zu körperlichen Mangelerscheinungen bis hin zu akut lebensbedrohendem Untergewicht. In Langzeituntersuchungen zeigte sich, daß fast 15% der Magersüchtigen an den Folgen ihrer Erkrankung sterben. Bei Essanfällen wird in wenigen Stunden nachgeholt, was dem Körper tage- und wochenlang vorenthalten wurde.
Im Kreislauf der Sucht
Trotz der offensichtlichen Unterschiedlichkeit dieser Störungen gibt es zwischen ihnen wichtige Gemeinsamkeiten. Besonders auffällig ist die Tatsache, daß viele der ess-brechsüchtigen Frauen in ihrer Vergangenheit Phasen von Magersucht erlebt haben. Auch werden jeweils ähnlich extreme Methoden der Gewichtsreduktion verwendet, die jedoch in einen fatalen Kreislauf münden. So versuchen beispielsweise Bulimikerinnen, das oft nur vermeintliche Übergewicht durch radikale Diäten zu verringern. Solche Diäten erzeugen ausgeprägte Mangelzustände, die der Körper natürlich unter allen Umständen ausgleichen möchte. Der Wunsch zu essen wird mit der Zeit so Über- mächtig, daß er nicht mehr kontrolliert werden kann. Es kommt zu einem ersten Essanfall, bei welchem in wenigen Stunden nachgeholt wird, was dem Körper tage- und wochenlang vorenthalten wurde. Aus der tiefsitzenden Befürchtung heraus, nach einem solchen Anfall wieder zuzunehmen, wird das Essen willentlich wieder erbrochen und die Diät umso strenger fortgesetzt – mit der Folge, daß der nächste Ess-Brechanfall gleichsam vorprogrammiert ist: Der Kreislauf von Fasten, Ess-Brechanfall und neuerlichem Fasten hat sich geschlossen.
Zudem führt dieser Kreislauf zu Veränderungen des Stoffwechsels, welche die Stimmungslage negativ beeinflussen. Im Verlauf der Störung kann es so zu ausgeprägten Depressionen kommen, die sich jedoch nach einem Essanfall für kurze Zeit wieder verlieren. Damit machen Bulimikerinnen die Erfahrung, daß es ihnen nach einem Ess-Brechanfall gefühlsmäßig besser geht, wodurch der suchtartige Mechanismus der Erkrankung noch verstärkt wird. Bei magersüchtigen Frauen wird der Suchtcharakter besonders deutlich. Neuere Untersuchungen legen sogar die Vermutung nahe, daß Magersüchtige unter dem Einfluss andauernden Fastens vermehrt körpereigene Rauschmittel – sogenannte Endorphine – freisetzen, von denen sie dann abhängig werden. Dies äußert sich in dem Zwang, immer noch weniger zu essen.
Krank im Sozialen Abseits
Dass vorwiegend Frauen von solchen Essstörungen betroffen sind, liegt nicht zuletzt in dem verzweifelten Bemühen, sich dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal anpassen zu wollen. Diesem Druck sind die erkrankten Frauen umso mehr ausgeliefert, als sie oftmals völlig unangemessene Vorstellungen von der eigenen Körperform haben. Der Psychologe spricht hier von einer Störung des Körperbildes. Der Eindruck, viel zu dick zu sein, wird dabei weniger durch den Blick in den Spiegel unterstützt. Vielmehr wird er durch das eigene, subjektive Körperempfinden vermittelt, das jedoch – objektiv gesehen – stark verzerrt ist. In der Folge wird der eigene Körper massiv abgelehnt. Die Betroffenen fühlen sich unattraktiv, ziehen sich zurück und verlieren mehr und mehr ihre sozialen Beziehungen.
Die zunehmende Vereinsamung wird noch verstärkt durch die depressiven Stimmungen, die mit der Zeit als Folge des krankhaften Ernährungsverhaltens auftreten. Das Denken dreht sich im Kreise und im Mittelpunkt steht das Essen, die nächste Diät und die eigene Figur. Im Verlauf der Erkrankung verfestigen sich zunehmend die unangemessenen Selbsteinschätzungen. Es kommt zu irrationalen Überzeugungen wie etwa: „Nur wenn ich dünn bin, bin ich liebenswert“ oder „Wenn jemand lacht, dann garantiert weil ich so dick bin“. Solche irrationalen Gedanken zerstören mit der Zeit das Selbstwertgefühl. Nicht selten treten sogar Geldschwierigkeiten auf, wenn die Sucht nicht mehr selbst finanziert werden kann. Tiefe Schamgefühle, aber auch Angst davor, entdeckt zu werden, führen dazu, daß die Essstörung selbst oft jahrelang verheimlicht wird.
Bleibt diese Störung unbehandelt, so stellen sich mit der Zeit körperliche Folgeerkrankungen ein. Diese betreffen nicht nur solche Organe, die eng mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängen. Bei magersüchtigen Frauen etwa kann es neben Magengeschwüren zu Schädigun- gen der Leber und Nieren kommen. Das für dieses Krankheitsbild typische Ausbleiben der Regel etwa ist eine Folge gravierender Veränderungen im Hormonhaushalt, z.B. bei den Geschlechtshormonen. Bulimikerinnen zeigen u. a. oft Verätzungen der Speiseröhre als Folge des Erbrechens. Zudem stellen sich mit der Zeit Abweichungen im Salzhaushalt des Körpers ein, die lebensgefährlich sein können.
Der Teufelskreis bei Essstörungen
Die Psychologische Therapie von Essstörungen
Krankhafte Abweichungen des Ernährungsverhaltens können erfolgreich psychologisch therapiert werden. Bei akuten Zuständen etwa des Ausgehungertseins, wie sie bei extremen Formen der Magersucht vorkommen, ist die Zusammenarbeit zwischen dem Arzt und dem Psychologen unerlässlich. Die fachpsychologische Behandlung berücksichtigt dabei nicht allein die seelischen Ursachen der Essstörung, sondern geht insbesondere auch auf die aufrechterhaltenden Bedingungen der Krankheit ein. Der Kreislauf von Essanfall-Fasten-Essanfall etwa verselbständigt sich mit der Zeit. Damit wird die Essstörung quasi unabhängig von ihren anfänglichen Ursachen. Um den Erfolg zu gewährleisten, sollte die Behandlung dem vielschichtigen Wechselspiel von Denken, Fühlen und Verhalten Rechnung tragen. Entsprechend muss die Therapie die individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Patienten berücksichtigen. Aber natürlich gibt es Behandlungselemente, die bei Essstörungen allgemein zur Anwendung kommen.
Große Aufmerksamkeit gilt der Auseinandersetzung mit der eigenen Figur. Das Ziel ist hierbei, auf die negative Bewertung des Körpers einzuwirken und die Akzeptanz der eigenen Figur wiederherzustellen. Dies kann beispielsweise über den Einsatz von Videotechniken geschehen, welche die unrealistische Körperwahrnehmung der Patientinnen verdeutlichen und so Veränderungsprozesse in Gang setzen.
Wer von einer Essstörung betroffen ist, hat oftmals völlig unangemessene Vorstellungen von der eigenen Körperform.
Wichtig ist es ebenfalls, daß die Patienten die eigenen Körpersignale wieder richtig deuten können, da bei Essgestörten die Sensibilität für Hunger- und Sättigungsgefühle aus dem Gleichgewicht geraten ist. Sie fühlen nicht mehr richtig, wann der Magen normalen Hunger oder Sattheit signalisiert. Auch die Fähigkeit, Hunger von Appetit zu unterscheiden, ist in der Regel nur noch schwach oder gar nicht mehr vorhanden. Solche Wahrnehmungen aber sind natürlich von zentraler Bedeutung für die Regulierung der Nahrungsaufnahme. In der Therapie können spezielle Konfrontationsübungen eingesetzt werden, damit die Patientinnen diese Empfindungen wieder angemessen einordnen können.
Desgleichen müssen das oftmals fehlerhafte Wissen über Ernährungsvorgänge korrigiert und irrationale Überzeugungen und überzogene Verallgemeinerungen aufgearbeitet werden. Die emotionalen Schwierigkeiten und Kontaktprobleme können oftmals schon über das Erlernen und Üben neuer sozialer Fertigkeiten weitgehend verringert werden. So werden im Rollenspiel hilfreiche Verhaltensweisen ausprobiert, die dann gemeinsam mit dem Therapeuten in konkreten Alltagssituationen umgesetzt werden. Das sogenannte „Essmanagement“ – ein nahezu obligatorischer Teil der Therapie – hilft dem Patienten zusätzlich, wieder ein angemessenes Essverhalten aufzubauen.
Insgesamt führt das integrative Konzept einer psychologischen Behandlung dazu, daß neben den physiologischen Aspekten der emotionale Bereich ebenso in die Therapie eingeht, wie auch der geistige Bereich von Vorstellungen, Urteilen und Einschätzungen. Die anfänglichen Ursachen der Essstörung werden herausgearbeitet und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die Selbstwahrnehmung beim Patienten wird so unterstützt und gefördert, daß er die Kontrolle über sein Ernährungsverhalten wiedererlangt.
Hilfe und Behandlung
So gravierend eine Depression sein kann, es gibt wirksame Behandlungen. Auch Vorbeugung nach einer akuten Depression ist möglich und häufig auch notwendig, um Rückfälle zu vermeiden oder zu lindern. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, eine Depression zu behandeln: Psychotherapie und Medikamente (sogenannte Antidepressiva). Bei schweren und mittelschweren Depressionen ist eine individuell abgestimmte Kombination aus beidem inzwischen der Standard. Dabei arbeiten Facharzt und Psychologe eng zusammen. In leichteren Fällen ist eine Psychotherapie das richtige Mittel.
Antidepressive Medikamente
Schwere Depressionen, oft auch mittelschwere, müssen mit Antidepressive behandelt werden, denn die Erkrankten sind erschöpft und geschwächt. Sie wären am Anfang der Behandlung mit einer Psychotherapie überfordert. Zur Entlastung kann manchmal ein Klinikaufenthalt sinnvoll sein, am besten auf einer Depressionsstation, wo das Personal entsprechend qualifiziert ist. Antidepressive Medikamente machen nicht abhängig.
Psychotherapie
Die Wirksamkeit von Psychotherapie bei Depressionen ist wissenschaftlich erwiesen. Sie ermöglicht dem Patienten, seine depressive Grundhaltung zu bearbeiten und nach einer Depression wieder ins Alltagsleben zurückzufinden.
Die Dauer und die Schwerpunkte der Behandlung hängen vom Einzelfall ab. Am Anfang wird es nur darum gehen, in unterstützenden Gesprächen dem Patienten Halt zu geben und ihm zu versichern, daß Heilung möglich ist. Später bietet sich ein Spektrum von Möglichkeiten an: Tages- und Wochenpläne helfen, das Leben wieder zu gestalten. In Rollenspielen lässt sich Selbstbewusstsein üben und man lernt den depressiven Reaktionsneigungen auf die Spur zu kommen: den Schuldgefühlen, dem schwer Nein-sagen können, der Neigung, aus alltäglichen Enttäuschungen Katastrophen zu machen, den überhöhten Ansprüchen an sich selbst. Der pessimistische, einengende Denkstil, der den betroffenen meist überhaupt nicht bewusst ist, wird deutlich gemacht und reflektiert. Wichtiger Bestandteil einer Psychotherapie bei Depressionen ist außerdem, lebensgeschichtliche Hintergründe, Belastungen und Konflikte aufzuarbeiten und Zusammenhänge zur aktuellen Erkrankung zu verstehen.
Herausgeber:
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen und Christoph-Dornier Stiftung für Klinische Psychologie